Neues und Vertrautes
Beinahe drei Wochen ist es nun schon wieder her, dass ich über Göteborg und Kiel nach Hause zurückgekehrt bin. Gestern habe ich endlich Zeit gefunden, die letzten Dinge sauber zu machen und zu verstauen, in den nächsten Tagen werde ich diesen Reisebericht geschrieben und hochgeladen haben – und wenn Ende des Monats die letzte Mautabrechnung kommt, ist auch dieser Urlaub schon wieder Vergangenheit. Bleiben werden diese Bilder hier, viele Erinnerungen und Gedanken; noch mehr aber die mal glimmende, mal aufflammende, mal brennende Sehnsucht, an all die Plätze meiner Reisen zurückzukehren und so vielen der Menschen wieder zu begegnen, die ich unterwegs getroffen habe. So kommt es, dass ich gegen meine Überzeugungen und Gewohnheiten in den letzten Tagen sogar schon die eine oder andere Flugverbindung recherchiert habe. Doch würde nicht, wenn ich jetzt schon wieder aufbreche, das Außergewöhnliche zur Normalität, die einsetzende Routine zu Arbeit, die Weite eng und das Besondere fad, so als wäre immer Weihnachten?
Ein kleines bisschen ging es mir so schon zu Beginn meines Urlaubs: In aller Eile hatte ich das Nötigste zusammenpackt, bereits am Tag meiner Abfahrt kam ich im schwedischen Borstahusen genau dort an, wo ich schon einmal Abschied vom Norden genommen hatte, zwei Nächte drauf war ich in Gräddo, wo ich bereits 2020 schon einmal war, und am vierten Tag schon erreichte ich die Provinz Västernorrlands, wo ich genau wie vor zwei Jahren, seinerzeit jedoch auf dem Rückweg, in Sundsvall mein Nachtlager aufschlug. Fast 1.700 Kilometer in so kurzer Zeit, auf bekannten Wegen und Plätzen, vorbei an bekannten Orten und Seen – da stellte sich schnell eine gewisse Routine ein.
Doch die Sorge, es könnte bei all dem Vertrauten um eine langweilige Wiederholung von bereits Bekanntem handeln verschwand immer genauso schnell, wie sie sich Raum nehmen wollte. Einerseits versprach dies eine gewisse Entspannung bei den Anstrengungen, die eine lange Reise in die Nordpolarregion nun einmal mit sich bringt, andererseits kam es zwischendurch zu vielen netten Begegnungen, so dass der Auftakt fast wie ein Wiedersehen mit alten Bekannten wurde.
Schon bei meiner Ankunft in Schweden wurde ich beinahe stürmisch von einer strahlenden jungen Frau begrüßt, die wie ein Flummi durch die Rezeption hüpfte und sich riesig freute, mal wieder Kundschaft zu haben. Ihre Fröhlichkeit war ansteckend, das Zelt schnell aufgebaut und schon kurz nach dem Abendesse waren die Strapazen des langen Tages beim Fotografieren am Strand schnell vergessen. Der nächste Tag begann ebenfalls schön mit dem Morgenkaffee im Freien und dem Besuch meines Zeltnachbarn, der sich zu mir an den festinstallierten Tisch auf der Zeltwiese setzte, um Frühstück für seine beiden Kinder und sich vorzubereiten, und von der Radtour mit den Töchtern entlang des Götakanals und zurück über den Vättern mit einer Fahrradfähre berichtete, die nicht jeden Tag fahre, sie aber glücklicherweise zum richtigen Zeitpunkt erreicht hätten. Ich denke, das wäre ein schönes Vorhaben für einen meiner nächsten Urlaube (und vielleicht eher zu verwirklichen als Bodø – Tromsø oder Braga – Sagres).
Der erste Tag in Schweden führte mich an Vimmerby vorbei durch die historische Provinz Småland. Eine Gegend, die ich bei meinem ersten Besuch dort vor vier Jahren so ganz anderes erlebt habe, als ich sie mir seit Kindertagen vorgestellt hatte, und wo es immer noch viel Neues für mich zu entdecken gibt. Über eher kleine Straßen ging es nach Öxlesund, wo ich die Nacht verbrachte und von wo aus ich mich durch den erbarmungslosen Feierabendverkehr Stockholms nach Vällingby schlug, um mich dort mit einem lieben Menschen zur Fika zu treffen – der (Bildungslücke geschlossen) traditionellen schwedischen Kaffeepause. Wie im Fluge verging dabei die Zeit, bevor es weiterging in die vertraute Umgebung von Gräddö.
Noch weitere zwei Tage dauerte der Schnelldurchlauf durch die jüngere und ältere Reisegeschichte – und durch die eigene Biografie von der Kindheit bis zum Tode meines Vaters vor zwei Jahren – bevor sich das Reistempo nach Station an der Mündung des Ljungan und der ersten Nacht in Sápmi auf der Strecke von Arvidjaur weit in den Norden ein ganz Stück verlangsamte. Die erste Etappe war bisweilen intensiv, manchmal traurig, plötzlich urkomisch, vertraut und trotzdem seltsam leer, aber insgesamt wirklich schön. Es war ein Treffen mit vielen alten Bekannten auf einmal, wo für die Einzelnen ein wenig zu wenig Zeit geblieben ist und man sich vielleicht genau deswegen schon auf ein baldiges Wiedersehen freut.
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Im Sand, am Strand und anderswo
Anders als vor zwei Jahren sollte es dieses Mal klappen mit dem Weg in den Norden Norwegens, wenngleich es auch dieses Mal einige kleinere Hürden zu nehmen galt: Im Gebiet zwischen Gällivare, dem nicht ganz freiwilligen Wendepunkt vor zwei Jahren, und Tromsø gibt es kaum Zeltplätze. Einzig auf finnischer Seite in Muonio sollte es einen geben, was jedoch einen gewissen Umweg bedeutete. Natürlich hätte ich auch eine Nacht im Auto verbringen können, doch vermeide ich in Skandinavien, mittlerweile sogar das Campieren auf asphaltierten Flächen, wann immer es irgendwie möglich ist und ich nicht grade zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs bin, weil leider viel zu viele Menschen die wenigen Auflagen und Einschränkungen des Allemansrätts schlicht ignorieren, um rücksichtlos ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
So verließ ich also schon ein ganzes Stück vor Kiruna die gut ausgebaute Landstraße, um dann auf der E45 in Richtung Finnland zu fahren. Doch schon nach wenigen Metern wurde aus dieser Europastraße – sie reicht übrigens bis zum Ziel meiner letzten Reise: nach Siciliana – eine Sandpiste, die zwar größtenteils gut zu fahren war, zeitweise jedoch auch große Schlaglöcher aufwies. Diesen hätte ich zwar mangels weiterer Verkehrsteilnehmer*innen gut ausweichen können, wäre da nicht der dichte Nebel mit Sichtweiten teils unter 20 Meter gewesen. Gute anderthalb Stunden brauchte ich nun also für etwa 50 Kilometer ohne Straßenbelag, ohne Sicht, ohne Menschen, ohne Telefonsignal und ohne GPS. Hätte das Fahren nicht meiner vollen Konzentration bedurft, wäre das leise mulmiges Gefühl in mir eventuell doch noch angeschwollen.
Spätestens aber nach der Überquerung des Torne älv | Tornionjoki klarte es auf, hatte ich wieder festen Boden unter den Rädern und war schließlich nach einer guten weiteren Stunde am Ziel. So dachte ich zumindest. Leider erfuhr ich erst am Tor des Zeltplatzes, dass dieser für Instandsetzungsarbeiten geschlossen war. Wohl oder übel musste ich also noch 70 Kilometer weit in Landesinnere fahren; allerdings nicht, ohne mich dieses Mal vorher telefonisch versichert zu haben, dass ich auf einem reinen Caravanplatz unterkommen kann. Vor Ort in Sirkka erwartete mich zwar nur ein wirklich schmaler Grünstreifen am Rande einer Ferienwohnung und jede Menge Regen. Der überdachte Stellplatz des Gebäudes als Küche und die Freude über die (nicht unbedingt auf andere Orte übertragbare) Flexibilität der Rezeptionistin, mich mit einem Zelt überhaupt dort unterkommen zu lassen, entschädigten aber an diesem Abend für vieles und erinnerten mich daran, dass ich unbedingt einmal länger in Suomi verweilen sollte.
Die weitere Fahrt verlief problemlos. Den halben Tag lang ging es entlang der schwedisch-finnischen Grenze durch die kargen Landschaften der Nordpolarregion, deren Flora und Licht mich jedes Mal wieder aufs Neue in ihren Bann ziehen. Zwischen beiden Ländern verläuft eben jener Fluss, den ich bereits am Vortage überquert hatte und der schließlich bei Haparanda und Tornio in den Bottniska viken | Pohjanlahti fließt. Allerdings hieß er hier (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und von Süd nach Nord) wahlweise Muonio älv | Muonionjoki, Onkka, Kiehvuopio, Varppissuvanto, Pikkuniva, Ainavarppiniva, Könkämäeno, Iittosuvanto, Vittanginniva oder Talosuvanto. Reisen bildete (leider) auch hier; denn ungefähr zur Hälfte der Grenzetappe fuhr ich an der Strumbock-Stellung vorbei, welche 1942 zum Schutz der Eismeerhäfen im besetzten Norwegen von der Wehrmacht errichtet worden war. Die Geschichte des Nordatlantikwalls ist mir seit früher Jugend durch die Biografie meines Vaters vertraut, doch seine Dimensionen – wie weit er in den Norden reichte – wurde mir hier zum ersten Mal auf dieser Reise schlagartig bewusst.
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Gedanken und Gedenken
Am Nachmittag erreichte ich dann mit Tromsø den nördlichsten Punkt meiner Reise (und meines bisherigen Lebens), nachdem ich zuvor im Dreiländereck von Sverige, Suomi und Norge in der Kunta Enontekiö beim dritten Anlauf in vier Jahren endlich die Grenze nach Norwegen passiert hatte. Die baum- und strauchloses Zeltwiese des überwiegend geschotterten Campingplatzes wirkte zwar nicht besonders einladend und machte ihrer Bezeichnung insgesamt wenig Ehre. Da die nächsten beiden Tage allerdings Stadterkundung auf dem Programm stehen sollte, arrangierte ich mich mit den Umständen.
Meine erste Station sollte die Ishavskatedralen sein, die nur gut einen Kilometer entfernt lag. Der schlichte Betonbau aus den 60ern wirkte vor dem Grau des Tages von außen eher trist, im Inneren jedoch beinahe wie eine Höhle im Eis, die bei aller Kühle und einer Höhe von über 20 Meter doch so etwas wie Geborgenheit ausstrahlt. Der Farbton des Eichengestühls, das warme Licht der Prismakronleuchter und der dunkle Schein des bodentiefen Glasmosaiks an der Ostfassade tragen dazu einen nicht unerheblichen Teil bei. Auch wirkt der Bau aufgrund seiner Nurdachkonstruktion deutlich kleiner, als er tatsächlich ist. Fast winzig erscheint sogar die Orgel, die mit ihren 42 Registern und fast 3.000 Pfeifen alles andere als klein ist. Für mich wurde die Tromsdalen kirke zu einem Ort, an dem ich zur Ruhe kam, ganz bei mir und doch in Gedanken bei zwei Menschen war, von denen um diese Zeit des Jahres einer in hohem Alter, ein anderer viel zu jung gestorben war.
Über die Brücke, die den auf dem Festland gelegenen Stadtteil Tromsdalen mit der Insel Tromsøya verbindet, fuhr ich mit dem Fahrrad zunächst nordwärts bis zum Havneterminal, wo leider auch hier im hohen Norden große Kreuzfahrtschriffe anlegen, um Armaden von Reisenden mit Bussen zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt zu karren. Glücklicherweise ist der Spuk jedes Mal innerhalb weniger Minuten wieder vorbei. Allerdings hat der wachsende Tourismus – die Zahlen haben sich in den letzten zehn Jahren mehr als verzehnfacht – seine Spuren hinterlassen: Nicht nur werden die Straßen der Innenstadt grade sämtlich und mit hohem Aufwand flanierfähig gemacht, auch der typische Wechsel von Bars, Bistros und Restaurants auf der einen und Outdoorshops sowie Souvenirläden auf der anderen Seite findet sich hier ebenso wie in jeder anderen europäischen Stadt mit maritimem Flair. Dennoch hat sich die Atmosphäre in diesem Teil der Stadt einen gewissen Charme und jene Eigenart bewahrt, die so typisch für Städte mittlerer Größein Nordeuropa ist: Ein homogenes Nebeneinander von Neuem und Altem, dezent farbenfrohe Häuser, oft aus Holz, seltener aus Stein.
Eine lange Weile verbrachte ich Kirkeparken rund um die Tromsø domkirke, die zumindest von Google Maps an nördlichste lutherische Kirche der Welt bezeichnet wird. Etwas westlich der Kirche befindet sich eine bronzene Gedenktafel „til minne om krigens ofre“ (für die Opfer des 2. Weltkrieges) der Stadt. Während ich sie betrachtete fielen mir die Geburtsjahre einiger Männer ins Auge, die in etwa im Alter meines Vaters waren, der ja mit zu den Besatzern in Norwegen gehört hatte. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass der Tag seiner Beerdigung auf den Jahrestag des Überfalls auf Polen fiel. Und welche Macht auch immer ließ mich an einem 1. September vor diesem Stein stehen – nicht schuldig an den Gräueltaten der Menschen meines Landes, aber den Opfern schuldend, dass als nie wieder geschieht. Wenige Minuten später kam ein Mann in meinem Alter vorbei, vielleicht ein wenig jünger als ich, der seinen nicht mehr ganz kleinen Kindern etwas zu erklären schien. Ich sprach ihn an und wir unterhielten uns länger. Dabei stellte sich heraus, dass er Geschichtslehrer ist und sehr viel über die Zeit der Besatzung wusste. Unter anderem wies er mich darauf hin, dass nur einige Meter weiter, in der Bankgata 13, das Gestapo-Hauptquartier gewesen sei.
Erst beim Schreiben dieser Zeilen fällt mir auf, dass unter den beinahe 200 Namen viele jüdische befinden. Viele (oder sogar alle?) von ihnen wurden nach Auschwitz deportiert und dort vergast. Unter den Opfern findet sich auch der Name von Ruth Sakolsky, einem dreijährigen jüdischen Mädchen:
„Ruth und ihre Mutter wurden am 25. November 1942 von der norwegischen Staatspolizei verhaftet und in das Bredtveit-Gefängnis in Oslo überstellt. Von hier aus wurden sie am 25. Februar 1943 mit dem Truppentransporter Gotenland deportiert. Bei ihrer Ankunft in Auschwitz am 3. März wurden Ruth und Rebekka Sakolsky direkt in die Gaskammern geschickt und getötet. Ruths Vater, Selik Sakolsky, wurde im November 1942 auf dem Schiff Monta Rosa deportiert. Er kam am 1. Dezember 1943 in Auschwitz ums Leben.“
Quelle: Verzeichnis der norwegischen Snublesteiner (Stolpersteine)
Den Jahrestag, die Gedenktafel und das Bild eines Soldaten im Kopf, herrschte noch eine ganze Zeit lang ein ziemliches Durcheinander in mir, dass sich auf meinem Weg entlang des Tromsøysunds in Richtung Süden ganz allmählich lichtete. Das Polaria, ein Erlebnis- und Informationszentrum zur Polarforschung, war leider geschlossen und das architektonisch interessante Gebäude aufgrund von Erweiterungsarbeiten größtenteils durch Absperrungen und Planen verdeckt. Zunächst entlang des Ufers, dann durch die Straßen streunerte ich also zurück in die Innenstadt, um mangels Vorräten (von Schweden verwöhnt, hatte ich stillschweigend vorausgesetzt, dass ich auch in Norwegen auf einem Sonntag einkaufen kann) beim goldenen M einzukehren, dem „most northern“ und vielleicht auch teuersten der Welt.
Vielleicht ist Tromsø nicht wirklich eine Reise wert. Auch Polarlichterlichter waren dank einer dichten Wolkendecke in der Nacht nicht zu sehen. Und doch wohnt auch dieser Stadt ein Zauber inne, der sich nur schwer beschreiben lässt. Vielleicht trugen zu diesem Eindruck auch die vielen Gespräche mit wildfremden Menschen – nachmittags mit dem Lehrer und am Abend und nächsten Morgen auf dem Campingplatz dazu bei. Was das erste Gespräch angeht, zog irgendwann eine stille Dankbarkeit darüber ein, dass sich die Nachkommen zweier im Krieg verfeindeter Menschen freundlich begegnen können und bestrebt sind, die Erinnerung wach zu halten und den Frieden in einem freiheitlich-demokratischen Europa zu bewahren. Doch auch die anderen Gespräche mit den Zeltnachbarn aus Füssen, Hamburg und Paris blieben mir noch lange Gedächtnis. Alle drei waren alleine mit dem Fahrrad unterwegs und kurz vor der Rückkehr in die Heimat per Schiff und Flugzeug. Sven hatte mit Anfang 30 grade eine längere Zeit bei der Bundeswehr hinter sich, Julius sein Abitur (und Touren von 200 km am Tag mit dem Gravelbike) und François macht grade seinen Master in Restauration – und trotz (oder grade wegen?) unserer ziemlich unterschiedlichen Lebenswelten und -abschnitte gingen alle Gespräche recht schnell in eine angenehme Tiefe. Nachdem sich am Morgen unsere Wege trennten, traf ich beim Abwaschen noch Katja: Eigentlich wohne sie in Dänemark, sie arbeite jedoch immer für drei Monate als Krankenschwester in Tromsø und verbinde die Anreise dieses Mal mit einem Familienurlaub, berichtete sie mir. Ursprünglich kommt sie aus Tschechien, ist nach der Wende ausgewandert und hat ihr Glück in Skandinavien gefunden. Wir haben uns so lange über Krieg und Frieden, soziales Miteinander, Erziehung und noch vieles mehr unterhalten, dass ich am Ende viel zu spät aufgebrochen bin und Tromsø erst am späten Mittag verließ.
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Wasser, Wolken, Wohnmobile
Den Plan, noch weiter bis ans Nordkap zu reisen, hatte ich bereits in den Tagen zuvor kurzerhand verworfen und nahm nun direkten Kurs auf die Lofoten. Unzählige Bilder hatte ich den letzten Jahren von dort gesehen und die Vorfreude war groß. Doch an diesem Tag sollte noch nichts daraus werden, dort anzukommen. Nachdem zuvor die Sonne schon beim Passieren der Tjeldsundbrua schon ziemlich tief gestanden hatte, schlug ich kurz vor Sonnenuntergang mein Zelt noch einmal auf und verbrachte die Nacht in Gullesfjord auf Hinnøya, das zur benachbarten Inselgruppe Vesterålen gehört. Dafür, dass der Zeltplatz temporär mitten im Lager einer riesigen Straßenbaustelle liegt, ging es meinen gesamten Aufenthalt lang sowohl auf dem Gelände als drumherum erstaunlich ruhig zu. Das Plätschern des Gullesfjorden war leise zu hören und hellweiße Wolken mit strahlend grünen Rändern am nächtlichen Himmel ließen erahnen, welch prachtvolle Polarlichter durch sie verdeckt wurden.
Am nächsten Vormittag war es dann endlich soweit und ich erreichte über die Raftsundbrua Austvågøya, die erste Insel (øya) der Lofoten. Vorbei an Hanøy fuhr ich entlang der nördlichen Küste in Richtung Fiskebøl und dann in südliche Richtung bis kurz vor Svolvær. Dort richtete ich direkt am Vatterfjorden für eine knappe Woche meine Base ein – ein wenig abseits der befestigten Wohnmobilplätze hatte ich die Wiese am Wasser bis auf einen Anhänger ganz für mich alleine. Das Wetter war sonnig und wider Erwarten ziemlich warm. Ich erkundete zu Fuß die nähere Umgebung, fuhr anschließend on die Stadt, um meine Vorräte aufzufüllen und lernte wenige Stunden nach meiner Ankunft Michael kennen, einen Aussteiger aus Chemnitz, der seit drei Jahren mit seinem gut zwei Meter langen Handwagen (der Anhänger) durch Skandinavien wandert. Trotz einer politischen Grundausrichtung, die meiner kaum ferner sein könnte, verbrachten wir in den folgenden Tagen einige Stunden mit angeregten Debatten, freundlichem Austausch und Philosophieren über Gott und die Welt.
Henningsvær und Laukvik
Der nächste Tag begann recht trübe, aber war trocken. Während ich beim Morgenkaffee vor meinem Zelt saß und den Tag plante, kroch Michael aus seinem Wagen und gesellte sich zu mir. Glück mit dem Wetter habe ich, erzählte er mir, die letzten vier Wochen habe es durchgehend geregnet. Ob ich ihn mit nach Svolvær nehmen könne, dann müsse er nicht den selten fahrenden Bus nehmen, fragte er und fügte hinzu, dass er dort als Koch arbeite. Wir unterhielten und noch eine Weile und fuhren dann irgendwann später gemeinsam los.
Nachdem ich ihn abgesetzt, ging es für mich weiter nach Henningsvær, einem Fischerdorf, das sich über die beiden Lofoteninseln Heimøya und Hellandsøya erstreckt und erst seit 1983 über zwei Hochbrücken – eine nach und eine von Engøya – mit Austvågøya verbunden ist; vorher war dieses nur mit dem Schiff möglich. Die Landschaft auf dem Weg dorthin war trotz tiefhängender Wolken ein Erlebnis; doch davon, wie sehr die Lofoten in den letzten Jahren zum Opfer eines rücksichtlosen Massentourismus', bekam ich an diesem Vormittag eine erste Ahnung: Trotz des nahen Herbstes, trotz der Abgelegenheit verging keine Minute, ohne einem Wohnmobil zu begegnen. Neben den leider inzwischen notwendigen Campingverbotsschildern standen selbst in den markierten Ausweichhaltebuchten auf der engen Straße auf Engøya handgeschrieben Hinweisschilder, dass diese keine Stellplätze sind. Bezüglich meiner Annahme, dass kein Mensch so dreist sein könne, dort allen Ernstes die Nacht verbringen zu wollen, wurde ich im weiteren Verlauf des Tages mehrfach eines Besseren belehrt: Auch die kleinsten Stellen an den Straßen wurden in Beschlag genommen, selbst die Zufahrten der nicht vollends belegten Campingplätze dienten nicht selten als Bleibe. Trotzt seines charakteristischen Aufbaus mit zentral gelegenem Hafen und hintergeordneter Wohnbebauung ist der eher schmucklose Ort unaufgeregt idyllisch, was sich auf die Insellage, das wilde Grün und die felsigen Berge im Hintergrund zurückführen lässt. Einen Besuch war das Dorf auf jeden Fall wert, wenngleich mir auch der grandiose Blick auf die wohl größte Attraktion Henningsværs mangels Drohne verborgen blieb, der auf einen der schönsten Fußballplätze der Welt (siehe Bild 17 auf der Seite des National Geographic Travel Photographer of the Year Contest von 2017).
Der Weg zum anderen Ende der Insel führte mich zunächst zurück nach Svolvær, von wo aus ich an endlosem Grünland vorbei nach Laukvik kam. Dort angekommen, zog es sich innerhalb weniger Minuten zu und der Wind frischte mehr und mehr auf, was den Weg vom Leuchtturm über den stark verwitterten Pier ein ganz kleines bisschen abenteuerlich geraten ließ. Einige lange Gedanken beschäftigten mich die 14 verunglückten jungen Fischer, bevor der Sturm das Trübsal wegwehte. Gischt im Gesicht, Salz auf den Lippen und Wind den Haaren ließen keinen Raum mehr dafür. Ein wenig klamm und fröstelig war ich am Ende und es war schön, anschließend im warmen Auto zu sitzen und den trostlosen Wohnmobilfriedhof auf der Mole auf der anderen Seite des Leuchtturms nur noch im Rückspiegel zu sehen.
Offersøykammen
Am Folgetag ging es nach Vestvågøya. Dort stand die erste Wanderung an, eine kurze nur, aber lang war sie dann trotzdem: Fast zwei Stunden benötigte ich für die gut zwei Kilometer, bei der allerdings mehr als 400 Höhenmeter zu überwinden waren. Mindestens einmal war ich kurz davor, aufzugeben – zu resigniert war ich über meine mangelnde Kondition; denn bergauf halfen weder das viele Radfahren der letzten Monate noch das Schwimmen weiter. Und zu konsterniert sah ich die Trailrunner*innen im Laufschritt an mir vorbeiziehen, während ich keuchend dastand. Schließlich doch oben auf dem Offersøykammen angekommen, war beides jedoch beim unbeschreiblichen Rundumblick über die Inseln im Nu vergessen. Der Rückweg verlief trotz fehlender Wanderstöcke deutlich flotter und erfolgte zunächst in netter Begleitung eines jungen Paares aus dem Raum Braunschweig, das den Aufstieg mit Säugling im Tragetuch bewältigt hatte, und später dann mit einer Ärztin aus der Nähe von Freiburg, die zusammen mit ihrer Mutter unterwegs war. Beide empfahlen mir noch den Wanderweg nördlich des Nordkaps für einen künftigen Besuch abseits der Touristenströme, bevor sich nach einer längeren Unterhaltung über das deutsche Gesundheitswesen unsere Wege trennten und ich zurück zum Zeltplatz fuhr.
Ramberg und Kabelvåg
Eigentlich sollte es gleich am nächsten Tag mit der nächsten Wanderung weitergehen. Doch trotz einer erholsamen Nacht war daran nicht zu denken, mit dem Reinebringen gleich den nächsten Berg zu erklimmen – zu sehr steckten mir die Anstrengungen des Vortages noch in den Gliedern. Also ging es nur mit dem Auto bis etwas südlich von Ramberg auf Flakstadøya, grade so weit, dass in der Ferne die Fredvangbruene zu sehen war, die über Torvøya zum nördlichen Ende von Moskenesøya führt. Auf dem Rückweg konnte ich mich tatsächlich zu einem kleinen Spaziergang am Rambergstranda und zu einem längeren – fast schon wieder zuhause – in Kabelvåg aufraffen. Insbesondere die Vågan kirke dort hatte es mir schon in den letzten Tagen im Vorbeifahren angetan. Leider war sie bereits geschlossen, doch die Abendsonne bescherte mir nicht nur ein tolles Licht auf die Lofotkatedralen – so wird die Holzkirche aufgrund ihrer Größe auch genannt, sondern ebenso auf den kleinen Hafen des Ortes. Etwas holprig klang der Tag jedoch aus: Nichts ahnend suchte ich mir beim Tanken die einzig freie Säule aus; das war jedoch ausgerechnet diejenige, welche mit der Aufschrift „avgiftsfri“ versehen war und subventionierten Kraftstoff in den Tank pumpte, der außer für Land- und Fischereiwirtschaft nur dem ÖPNV und anderen gemeinnützigen Institutionen vorbehalten ist. Wenige Augenblicke später dämmerte mir, dass ich ohne Vorsatz einen Steuerbetrug begangen hatte. Zu später Stunde im Zelt fand ich endlich heraus, was nun zu tun und besser zu lassen sie, nämlich meinen Irrtum selbst anzuzeigen und danach innerhalb von fünf Tagen den Tank leer zu fahren, wollte ich nicht eine Strafe von 2.000 € riskieren. Da ich ohnehin für drei Tage später die Fähre nach Bodø, musste ich zwar nun meine Reisepläne etwas ändern und statt durch Norwegen über Schweden gen Süden tingeln, konnte so aber trotz eines engmaschigen Kontrollnetzes beruhigt einschlafen.
Storvågan und Vatterfjorden
Auch am nächsten Tag verschlug es mich noch einmal in die Nähe von Kabelvåg, genauer gesagt nach Storvågan, das im 19. Jahrhundert eines der größten Fischerdörfer der Lofoten war. Rund um den alten Fischereibetrieb dort ist das Lofotmuseet entstanden, ein kleines Museumsdorf, das neben einer Ausstellung zur historischen und technischen Entwicklung des Fischfangs authentische Fischerhütten und Bootshäuser mit Nordlandbooten zeigt. Den Fotoapparat hatte ich dieses Mal nicht dabei, was ich nachträglich zwar bedauere, so aber deutlich mehr Konzentration auf die Exponate richten konnte.
Den Rest des Tages verbrachte ich nach einem kurzen Abstecher nach Svolvær auf dem Zeltplatz am Vatterfjorden: Außer Nichtstun und Fotos machen standen nur noch Kochen und die allmähliche Vorbereitung auf die Abreise am nächsten Tag auf dem Programm.
Moskenes(øya)
Am nächsten Morgen hieß es, Abschied zu nehmen – vom Platz, vom Fjord, von Michael. Doch der kurze Moment Wehmut war Anbetracht der Landschaft schnell verflogen. Auf derselben Strecke wie zwei Tag zuvor ging es zunächst nach Flakstadøya – vorbei an am Strand grasenden Kühen – zur Kåkern bru, über die ich die südlichste große Insel der Lofoten, Moskenesøya, erreichte. Diese verließ ich ich aufgrund der Streckenführung an der westlichen Küste noch einmal kurz beim Queren von Olenilsøya und Sakrisøya und erreichte bereits am Nachmittag den Zeltplatz von Moskenes direkt an dem Hafen. Von hier aus setzte ich am nächsten Morgen in aller Frühe nach Bodø über – traurig und doch unendlich dankbar, dass ich diesen Teil der Erde selbst sehen und erleben durfte.
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Urlaub im Urlaub
Auch wenn ich das Recht auf meiner Seite hatte, war ich doch erleichtert, als ich kurz hinter der Junkerdal Tollstasjon Schweden erreichte: Keine Kontrollen, weder am Hafen von Moskenes noch in Bodø und auch nicht an der Grenze. Und spätestens am nächsten Tag in Sveg hätte ich wohl die geforderte Restmenge an Kraftstoff im Tank gehabt, um wieder sorgenfrei in Norwegen unterwegs zu sein. Doch das wird hoffentlich irgendwann eine andere Geschichte. So genoss ich den letzten Tag in der Nordpolarregion und den vorletzten in Sápmi – und sog alles an Landschaft, Licht und Luft in mich auf, was nur hineinging. Einer Enttäuschung entging in dann am frühen Abend in Sorsele nur knapp, als ich an der Rezeption angemault wurde, dass der Platz für Zelte geschlossen sei. Ob ich das denn nicht auf der Internetseite des Campingplatzes gelesen habe, der Aufenthaltsraum sei geschlossen, sie habe keine Lust auf irgendwelche Ansprüche oder Beschwerden wegen der kühlen Witterung, pampte mich die Platzwartin mit leichtem sachsen-anhaltinischen Einschlag an. Erst als ich ihr freundlich versicherte, dass ich gut ausgestattet sei und keinerlei Unterschlupf über mein Zelt hinaus bräuchte, willigte sie zögernd ein – nicht ohne vorab zu berichten, wie sich andere Leute mit Zelt in der Vergangenheit verhalten hätten. Sogar betrunken einen Kerl angeschleppt habe kürzlich eine junge Frau, sowas ginge ja schon mal gar nicht.
Über all das – und den Aufbau, das Einrichten und Kochen, nicht zu vergessen den mehr und mehr auffrischenden Wind, dauerte es eine Weile, bis ich mir sicher war, auf diesem Platz schon einmal gewesen zu sein. War es beim Essen noch eine Ahnung, wusste ich auf dem Weg vom Abwaschen wieder, wo ich beim letzten Mal mein Zelt aufgeschlagen hatte, auch dass ich Ärger wegen meiner Platzwahl bekommen hatte, dass der alte Inhaber Schweizer war, dass auf der Zeltwiese ein Stück entfernt ein junges Paar, das mit Rädern unterwegs war, ein grünes Hilleberg-Zelt hatte und eines der kleineren Gebäude kurz hinter dem Wirtschaftsbereich zur Kapelle umfunktioniert worden war. Auch beim letzten Mal war ich nur eine Nacht auf der Durchreise dort; so wunderte ich mich um so mehr über die Details, die in meinem Gedächtnis abgespeichert waren. Trotz der Kälte und der einsetzenden Dunkelheit verharrte ich noch eine ganze Weile am Ufer des aufgepeitschten Vindelälven, wieder einmal sehr glücklich darüber – mittlerweile war der Wind zur frischen Brise mit stürmischen Böen geworden –, ein Zelt zu haben, dass für solches Wetter gemacht ist.
Am nächsten Morgen hatte ich nach dem Abwasch und einer warmen Dusche in einem sehr deutsch gestalteten Sanitärgebäude und dem obligatorischen Abwasch schnell zusammengepackt. Zwar lag mein nächstes Ziel keine 500 km entfernt, doch war ich entschlossen, die Rückreisetappen noch so sehr wie irgend möglich zu genießen und es unterwegs gemächlich angehen zu lassen. Doch daraus wurde insofern nicht, als ich mich bei Auschecken weit über eine Stunde mit der Platzwartin verquatsche, die über Nacht zu einem anderen Menschen geworden zu sein schien. Zwar lästerte sie intensiv über den Schweizer, den Platz zuvor geführt hatte, und über eines der Gästepaar, dass wenige Tage zuvor das Ende seines T4 zu beklagen hatte und sich im Abschiedsschmerz wohl ein wenig zu sehr von seinen Gefühlen leiten ließ. Doch insgesamt wurde ich darin bestätigt, dass auch mürrische und misstrauische Menschen umgänglich sind, wenn man ihnen freundlich und verbindlich begegnet. So ging das Gespräch nun munter und lustig hin und her – selbst wenn hier und dort – 2.000 Kilometer fern der Heimat – der schmerzliche Riss zwischen Ost und West spürbar war, der mir in diesen Zeiten so schwer zu heilen scheint (und ich es mir so sehr anders wünschen würde). Ich hoffe, dass der Platz in seiner jetzigen Form noch besteht, wenn ich wieder einmal da oben bin. Um diese Jahreszeit einen Platz zu finden, der auch Zelte nimmt, ist ja nicht immer leicht. ;-) Grüße gehen an dieser Stelle raus an die Wernigeroder Exklave in Sápmi.
Tatsächlich war ich als dann doch erst gegen Mittag wieder unterwegs und erreichte über eine der schönsten Fernverkehrsstraßen in Schweden (über Dorotea und Strömsund) am Abend wie geplant die kleine Insel Frösön im Storsjön bei Östersund. Eigentlich hatte auch hier vor, denselben Platz wie beim letzten Mal anzusteuern, aber aufgrund der späten Ankunft und der Möglichkeit außerhalb der regulären Öffnungszeiten, die Buchung online vornehmen zu können, wurde es ein anderer; kein besonderer, aber wohl einer der dunkelsten auf denen ich jemals war. So dunkel, dass ich sicherheitshalber eine Lampe am Zelt brennen ließ, als ich doch mal weiter als 100 Meter davon entfernt war. Am nächsten Morgen kam ich dort früh weg, nutzte aber die Zeit in der Umgebung von Östersund, um noch ein paar Fotos zu machen – und um zu schauen, wo denn die Idee zu meinem Zelt das Licht der Welt erblickt hatte.
Über Mora, meinem letzten Übernachtungsstopp unterwegs, gelangte ich nach Überquerung meines geliebten Klarälven und einem Abstecher über Gunnarskog einen Tag früher als eigentlich geplant Göteborg. Gerne hätte auch noch den Zeltplatz in Åmål am Vänern genutzt, entschied mich jedoch für die Weiterfahrt, um mehr Zeit in der Stadt am Göta älv verbringen zu können, wo ich am frühen Abend ankam. Anders als vor zwei Jahren blieb der Zivilisationsschock diese Mal aus: Kein ausgebuchter Campingplatz, keine Zeltnachbar*innen, welche die Umgebung stundenlang mit dem lauten Gedudel von Serien irgendeines Streamingdienstes beschallten. Nur drei Zelte um zu und jede Menge Wasser unterhalb der Grasnarbe. Auch hier hatte es in der Zeit zuvor lange und viel geregnet und der kleine Bach unterhalb der Zeltwiese gluckerte deutlich vernehmbar vor sich hin. Doch er blieb neben dann und wann Hufgetrappel die nahezu die einzige Geräuschquelle, eine angenehme noch dazu.
Nach einer erholsamen Nacht begann am nächsten Morgen das, was ich rückblickend einen Urlaub im Urlaub nennen würde: Keine Eile, ein ausgedehnter Spaziergang in der näheren Umgebung und wieder eine ganz andere Sicht auf die Stadt. So fanden sich hier im Übergang in die schwedische Natur einige Sportplätze für ganz unterschiedliche Zwecke, so auch der des Magpie Ridge, einem Discgolfclub. Nach dem Frühstück und einer längeren Zeit des Lesens von allerlei Nachrichten dann schließlich der Aufbruch in Richtung Stadt, um einem Bekannten aus der ostfriesischen Heimat zu treffen. Mit dem Auto fuhren wir Richtung Norden, immer nahe der Küste entlang, und machten zunächst Halt, um uns zu stärken, bevor wir schließlich Pilane auf der Inseln Tjörn ansteuerten, wo sich ein eisenzeitlicher Siedlungsplatz und ein Gräberfeld mit zahlreichen antiken Monumenten befinden. Seit 2007 wird das Gelände von Skulptur i Pilane genutzt, einer Skulpturenausstellung im Freien, die von einem privaten Museum koordiniert wird, das sich aus den Eintrittsgeldern finanziert. Die Kunstwerke waren durchaus beeindruckend – und das nicht nur der 14 Meter hohe und weithin sichtbare Kopf einer jungen Frau, aber auch der Blick auf die nahe Küste und ins Binnenland war einfach toll. Als wir schließlich nach vielen Stunden und zahlreichen anregenden Gesprächen wieder in Göteborg eintrafen, waren wir beide ein wenig erschöpft und gönnten uns eine kleine Verschnaufpause, die ich nutzte, um die ganzen Eindrücke des Tages ein wenig sacken zu lassen – und um das Auto gegen das Fahrrad zu tauschen, mit dem es einige Zeit später zurück ging. Auf dem Weg war ich wieder einmal überrascht von den vielen unterschiedlichen Facetten dieser Stadt. Bedeutet das Nebeneinander der Baustile mehrerer Jahrhunderte bisweilen harte Brüche, wirkt sie dennoch durch die großzügige Raumgestaltung und das zahlreiche Grün wie ein architektonisches Gesamtwerk. Von der Wohnung meines Bekannten fuhren wir ein Stück mit der Straßenbahn in Richtung Innenstadt und liefen eine Weile durch die Straßen, um dann gemeinsam zu Abend zu essen.
Der letzte Tag in Göteborg – und damit auch in Schweden – brachte gleich mehrere Dinge mit sich, die Spannung zum Abschluss versprachen. Nach dem Morgenkaffee – bei dem durch den Besuch eines Rehs wieder einmal der besondere Charakter dieser Stadt deutlich wurde – kam ich ins Gespräch mit meinen Zeltnachbar*innen Marlene und Sven. Nach einem neugierigen Austausch über die Reiserouten und -ziele des jeweils anderen, erkundigten sie sich nach möglichen Ausflugzielen in der Umgebung. Ich empfahl ihnen die Freiluftgalerie vom Vortag und Marstrand mit seinem Wanderweg durch die Schären, das ich vor vier Jahren besucht hatte. Wir unterhielten und noch über dies und das, bevor ich dann langsam anfing zusammenzuräumen und zu packen. Als ich ein paar Dinge ins Auto bringen wollte, musst ich feststellen, dass die Heckklappe nicht mehr per Fernbedienung zu öffnen war. Zunächst vermutete ich, dass der kleine Motor, der dafür verbaut ist, seinen Geist aufgegeben hat. Das ist bei meinem Modell häufig der Fall und war ebenso zu erwarten wie Kosten im viertstelligen Bereich für dessen Austausch. Dementsprechend verschlechterte sich meine Laune schlagartig. Ein wenig Hoffnung schöpfte ich, als ich feststellen musste, dass auch die Zentralverriegelung nicht mehr reagierte („doch nur die Batterie“), um dann beim Versuch, das Auto anzulassen, den Schreck des Morgens bekam. Zwar sprang der Wagen ohne Probleme an, allerdings leuchteten gleich mehrere Warnleuchten und ein Text erschien, der mich aufforderte, sofort rechts ran zu fahren, da die Bremsen ausgefallen seien. Zum Glück stand ich, noch dazu mit den Reifen am Bordstein, dass ich nicht wegrollen konnte, aber geheuer war mir in dem Moment rein gar nichts mehr. Ich setzte mich erstmal wieder nach draußen und begann mir einen Schlachtplan zu machen, ging Duschen und räumte weiter zusammen. Und schließlich geschah das Wunder, das ich um nichts erwartet hätte: Alle Fehler am Auto waren verschwunden – und die Heckklappe, die schon den ganzen Urlaub auf halb acht gehangen hatte, ging zum ersten Mal seit Wochen wieder ganz von alleine auf Maximalanschlag. Puh! Um einiges erleichtert, waren die letzten Arbeiten vor dem Aufbruch schnell erledigt, das Auto vor den Toren des Campingplatzes zwischengeparkt und ich wieder auf dem Weg in die Stadt, um einige Orte, wie das Skansen Lejonet einmal aus der Nähe anzuschauen. Um mich später noch einmal mit meinem Bekannten zu treffen, bahnte ich mir von dort aus den Weg durch ein Gewirr von Umleitungen in die Innenstadt, und fand mich schließlich an der Rückseite der Centralstation wieder. Vom Hauptportal derselben waren es nur noch wenige hundert Meter zum vereinbarten Treffpunkt, die nach anfänglich wirrem Suchen in der falschen Richtung dann doch zügig überbrückt waren. Die Zeit im Café ging bei einem zweiten (kleinen) Frühstück, dem – aus gegebenem Anlass – angeregten Austausch über die grade stattfindende TramDriver Championship und die dabei bestehenden Rivalitäten der beiden Städte Göteborg und Stockholm (bei der letztere sich am Ende mit einem Platz hinter den Teamitgliedern meines Bekannten wiederfand, das als Achter aus dem Wettbewerb hervorging) und dem Gespräch über die Geschichte der Stadt, vergingen die letzten Stunden vor meiner Abfahrt wie im Fluge. Dabei klärte sich auch auf, weswegen mich Teile der Stadt, nicht nur durch die grachtenähnliche Gestaltung des Kanals am Bahnhofsplatz an Holland erinnerten: „Während des 17. Jahrhunderts siedelten sich hier viele protestantische Einwanderer aus dem Süden der Niederlande, Deutschland und Großbritannien an, die für Göteborgs schnelle Entwicklung eine große Rolle spielten. König Gustav II. Adolf beschäftigte Niederländer im Stadtbau, weil sie zu dieser Zeit Experten im Bauen auf Marschboden waren. Sie bekamen dafür unter anderem wirtschaftliche und rechtliche Privilegien. Der Stadtrat von 1641 war mit vier Schweden, drei Deutschen, zwei Schotten und drei Niederländern besetzt. Der niederländische Einfluss war an den heute größtenteils zugeschütteten Grachten der sehenswerten Altstadt zu erkennen.“
Quelle: Wikipedia|Göteborg
Anschließend gingen wir noch gemeinsam zurück zur Centralstation, wo sich unsere Wege trennten: Zum gemeinsamen Verfolgen der weiteren Wettkämpfe zu den Teamkollegen meines Bekannten für ihn – und für mich zurück zum Campingplatz und von dort weiter zur Fähre. So zumindest war der Plan. Kaum war ich ein Stück gefahren, folgte ich einem kurzen inneren Impuls, um den Inhalt meiner Fahrradtaschen zu kontrollieren. Der Schreck folgte augenblicklich: Mein Portemonnaie war verschwunden. Die Zeit drängte; denn die Fähre ging bald und ich musste ja noch umpacken. Zum Verschieben der Fähre war es vermutlich auch schon zu spät und ohne gültigen Ausweis bestand keine Chance, planmäßig und ohne große Einbußen zurück nach Deutschland zu kommen. Erst überlegte ich, sofort meinen Bekannten anzurufen. Doch bevor ich das machen würde, beschloss ich, zunächst ins Café zurückzufahren. Dort angekommen, sank meine Hoffnung, da der Bar nichts abgegeben worden. Mit einem letzten Rest Hoffnung ging ich zur Sitzgruppe, wo wir gesessen hatten – und fand es hinter „meinem“ Sessel auf dem Boden liegen. Ich musste es wohl hinter mich gelegt haben und durch den Spalt zwischen Lehne und Sitzpolster hatte es sich selbstständig gemacht. Die Erleichterung war riesengroß und der Zeitdruck nun auch. Schließlich erreichte ich aber zunächst mein Auto und ohne weitere Zwischenfälle dann auch die Fähre. Und zwar rechtzeitig!
Nach diesem schönen, aber dann doch recht aufregendem Tag, genoss ich das Bekannte und Vertraute: Die Atmosphäre an Bord, die Passage entlang der Ufer der Stadt, die Luft und den letzten Blick auf die kleine Insel Gäveskär, die schon lange hinter uns lag, als die Nacht über dem Kattegat hereinbrach.
Beinahe elf Monate ist es nun her, dass ich diesen Reisbericht begann zu schreiben. Heute ist er endlich fertig geworden: Wie so oft ist immer wieder etwas dazwischengekommen (so extrem ist es noch nie gewesen); doch die dadurch beständige Erinnerung an diese Reise hat gut und hält die Sehnsucht nach Neuem ebenso wach wie an das flankierende Vertraute. Und irgendwann kann und darf ich vielleicht dorthin zurückkehren …
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