Nach unzähligen Malen gradewegs südwärts und einem Abstecher in den hohen Norden in den letzten Jahren, sollte es in diesem Jahr nun Südosteuropa werden. Zum einen galt es, das alte Versprechen einzulösen, einmal im Sommer nach Rumänien zu kommen (der erste Besuch führte vor vielen Jahren bei klirrender Kälte durch die schneebedeckten Karpaten in den tiefen Südosten des Landes), zum anderen war ich neugierig auf die Länder des Balkans, in denen ich zuletzt kurz vor den Jugoslawienkriegen war. So entstand nach kurzen Überlegungen der Plan, in Richtung Griechenland zu fahren, um dann innerhalb von zwei Wochen die östliche Adria zu bereisen. Doch wie das mit Plänen so ist, sind diese oft genug nur dazu gemacht, über den Haufen geworfen zu werden. Dazu aber später mehr.

So ging es also auf einer ersten Etappe an Leipzig und Prag vorbei über Bratislava und Sibiu nach Constanța und Шкорпиловциan (Shkorpilovtsi), einem kleinen noch kaum touristisch erschlossen Dorf südlich von Варна (Warna) an der Schwarzmeerküste.

Waren die ersten Tage noch geprägt von starken Gegensätzen – morbider Charme auf der einen, Aufbruch in die Moderne auf der anderen Seite –, war das, was jetzt kam, eine Fahrt durch eine Welt, die beinahe surreal war: Kilometer um Kilometer ging es vorbei an Hotels, an Wasser-, an Freizeitparks, an Hotels, an Geschäften, an Hotels. Zwar wusste ich, dass der Златни пясъци (Slatni pjasazi – „Goldstrand“) schon zu DDR-Zeiten Scharen von Gästen aus Ost und West gleichermaßen günstig Ferienquartier bot. Eine solche Form des Massentourismus wie hier im quasi Niemandsland, hatte ich jedoch zuvor noch nirgends in Europa gesehen.
Und apropos DDR-Zeiten: Nicht nur dauerten die Grenzübertritte sowohl nach Bulgarien als auch später nach Griechenland deutlich länger, als wir es im westlichen Teil der EU gewohnt sind (an den Übergängen bildeten sich lange Schlangen und die Ausweise wurden extrem penibel kontrolliert), auch wurde unser Wagen auf bulgarischer Seite gründlich inspiziert und schließlich sogar eine halbe Salami beschlagnahmt – selbstverständlich gegen Aushändigung eines entsprechenden Protokolls. Zwar war der Grund die grassierende Afrikanische Schweinepest; doch all das, zusammen mit den alten Grenzbauten, die noch aus sozialistischen Zeiten stammen, und den Polyesteruniformen der Grenzer, bewirkte schon ein kleines Déjà-vu.

Auf unserem weiteren Weg schlängelten wir uns die türkische Grenze entlang nach Αλεξανδρούπολη (Alexandroupolis), von wo es, an der Küste des Thrakischen Meeres und des Nestos Deltas entlang, in die Region Χαλκιδική (Chalkidiki) ging, wo wir in unmittelbarer Nähe der kleinen Hafenstadt Ουρανούπολη (Ouranoupoli) zwei Tage Pause direkt am Wasser einlegten.

Nach einer längeren Etappe, an Θεσσαλονίκη (Thessaloniki) vorbei und entlang dem Fuße des Olymps, erreichten wir die Gemeinde Μετέωρα (Metéora), wo wir zumindest einige der ursprünglich 24 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Klöster sehen konnten.
„Der Name Metéora leitet sich von meteorizo (μετεωρίζω) ab, was ‚in die Höhe heben‘ bedeutet. Dieser Name beschreibt die Lage der Klöster, die auf hohen Sandsteinfelsen gebaut wurden und bei dunstiger Luft manchmal zu schweben scheinen“
(Wikipedia: Meteora).
Mit dem Aufbruch von dort in Richtung Westen sollte die Zeit in Griechenland langsam dem Ende entgegengehen. Sollte. Denn nach der folgenden Tour durch das nordgriechische Binnenland stellten wir abends in Πλαταριά (Plantaria) einerseits fest, dass gutes Essen und lange Gespräche mit netten Bekanntschaften durchaus zu einem überdurchschnittlichen Konsum von Rotwein führen können (herzliche Grüße an dieser Stelle an den Mofa-Reisenden aus München), andererseits aber auch, dass die Weiterfahrt nach Albanien mangels ausreichender Ausweisdokumente durchaus mit Schwierigkeiten verbunden sein könnte.

So ging es nach kurzer Beratung dann also nicht in Richtung Balkan, sondern weiter in den Süden auf die Πελοπόννησος (Peleponnes). Immer am Ionischen Meer entlang erreichten wir schon bald Πάτρα (Patras), wo es über die Γέφυρα Ρίου-Αντιρρίου (Rio-Andirrio-Brücke), einer beeindruckenden Schrägseilkonstruktion, vom griechischen Festland auf die Halbinsel ging, die den Süden Griechenlands bildet.

Nach einer Nacht in Θολό (Tholo), wo wir ein freundliches älteres Paar aus den Niederlanden kennenlernten, erkundeten wir den Apollontempel in der Nähe von Βάσσες (Bassae, gesprochen Vásses), der ebenfalls zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt und derzeit unter einer riesengroßen Schutzkonstruktion aus weißen Zeltbahnen restauriert und – aus Gründen der Stabilisierung – in Teilen auch rekonstruiert wird.

Nach so viel Kultur am frühen Morgen machten wir uns auf den Weg zu dem kleinen Flüsschen Νέδα (Neda), an welchem laut Reiseführer ein idyllischer Wasserfall liegen sollte. Und siehe da: Nach einem recht abenteuerlichen Trip über unbefestigte und steile Nebenstraßen und einem längeren Fußmarsch entlang ebensolcher Wege erreichten wir ihn tatsächlich – und kamen, was bei der Hitze durchaus einige Kraft kostete, auch wirklich wieder dort an, wo wir aufgebrochen waren. Trotz trockner Kehle und knurrendem Magen: Der Weg hatte sich gelohnt! Vorbei an den Vogelscheuchen von Κυπαρισσία (Kyparissia) erreichten wir im Anschluss schließlich den südlichsten Punkt unserer Reise: Φοινικούντα (Finikounda).

Über Μεθώνη (Wikipedia: Methoni) mit seiner Festung, welche von den Römern geründet, von Byzantinern und Venezianern kontinuierlich ausgebaut, von den Deutschen als Stützpunkt der Wehrmacht missbraucht und durch die Bombardierung der Alliierten schwer beschädigt wurde, ging es Kilometer um Kilometer hinter einem holländischen Wohnwagengespann her wieder in Richtung Norden. Ziemlich genervt fanden wir nach gefühlten Stunden endlich eine Möglichkeit zum Überholen – und mussten laut lachen, als sich schließlich herausstellte, dass es sich um das niederländische Paar handelte, welches wir zwei Tage zuvor kennengelernt hatten.

Mit deutlich weniger Kulturprogramm, dafür mit gutem Wein, ausgezeichnetem Essen und teils atemberaubenden Landschaften, erreichten wir nach Zwischenstation in Ναύπλιο (Nafplio) schließlich Κόρινθος (Korinth), wo wir über den Kanal von Korinth die Peleponnes wieder verließen (und damit leider die tollen Olivenhaine wieder gegen die gruseligen Sonnenblumenfriedhöfe eintauschten, die sich von Ungarn über Rumänien und Bulgarien bis nach Nordgriechenland ziehen).

Nach Zwischenstopp in Κάτω Γατζέα (Kato Gatzea) zog es uns, was selten vorkommt, wieder an einen Ort, an dem wir bereits waren: nach Ουρανούπολη (Ouranoupoli) – drei Tage Faulenzen, Schwimmen und Zeit, sich mit der Geschichte der Mönchsrepublik rund um den Άγιον Όρος (Wikipedia: Berg Athos) auseinanderzusetzen, an dessen Grenze wir uns befanden. Und so wagten wir eine Premiere und erkundeten mit einem geliehenen Motorboot die Umgebung. Bis zur Spitze der Halbinsel, an welcher der Berg Athos liegt, durften wir leider nicht fahren, aber schon der Weg zur nahen Insel Αμμουλιανή (Amouliani) ließen Zauber und Schönheit dieser Landzunge erahnen. Apropos Schönheit: Wann immer wir mit Griechen ins Gespräch kamen, war nie die Frage, ob wir Griechenland oder die Griechen toll finden, sondern immer (mit ein wenig Stolz in der Stimme und leuchtenden Augen): „Es ist schön hier, ne?“
Ja, es war schön. Und vor allem eines – anders als erwartet: Weniger weiße Bauten, weniger deutsche Touristen, spürbare Geschichte, aber nicht nur die der Antike, sondern auch die der Neuzeit, des 20. und des noch jungen 21. Jahrhunderts.

Eine dreitägigen Rücktour vor Augen verließen wir mit leisem inneren Stöhnen Griechenland. Doch wieder einmal kam es anders als geplant. Einem letzten Blick auf den Olymp, einer zügigen Tour bis zur Grenze und einem kurzen Stau davor, folgte zunächst eine halbtägigen Reise durch Bulgarien, die mit dem Passieren der Donau und einem diesmal längeren Stau davor ihre Fortsetzung fand – und am Rande von Drobeta-Turnu Severin abrupt endetet: Die Kupplung wollte nicht mehr. So fanden wir uns nach vielen hilfsbereiten Fragen, liebenswerter Unterstützung eines rumänisch sprechenden Freundes in der Heimat und tollem Support der Versicherung einige Stunden später im Hotel wieder.

Am folgenden Tag war recht schnell klar, dass wir die Rückfahrt mit dem Zug antreteten und noch eine weitere Nacht vor Ort bleiben müssen. Wir machten das Beste draus – und so wurde aus einem anfänglichen Schlamassel ein geschenkter zusätzlicher Tag Urlaub. Nein, diesen Ort hätte ich so wahrscheinlich nie kennengelernt, aber auch hier war wieder, wie schon zu Beginn der Reise, diese faszinierende Spannung zwischen morbidem Charme und Aufbruch deutlich zu spüren. Und die Gedanken zurück dorthin paaren sich mich einer wehmütigen Melancholie: Es waren unaufdringlich freundliche Begegnungen am Rande, der Blick über die Donau nach Serbien, das Spiel der Farben, die Mischung aus sozialistischer, neoklassizistischer und kolonialistisch anmutender Architektur, die Industriebrachen, das bunte Treiben am Abend im Park und natürlich den Geschmack der Fetească neagră, die ich sobald nicht – hoffentlich nie – vergessen werde.

28 Stunden später endete der Epilog nach einer abendlichen Zugfahrt in Richtung Filiași und Simeria, einer nächtlichen nach Budapest und einer ganztägigen von Wien zurück in die Heimat. Es war eine Zeitreise durch ein gefühltes ganzes Jahrhundert, die schließlich jäh mit dem Abklopfen des Zugbodens an der österreichischen Grenze in der Gegenwart endete.
Weitere Fotos von der Reise gibt es unter România – България – Ελλάδα und auf Instagram.