Baltijas valstis][Baltijos valstybės][Balti riigid, Suomi ir][un][ja][och Sverige

Neringa, Abragciems, Rīga – und Tallinn ganz am Rande

Prolog

Es war eine merkwürdige Leere, welche in den ersten Tagen dieser Reise zum ständigen Begleiter werden sollte. Lange schon stand (im Gegensatz zu den letzten Jahren) die ungefähre Route fest, erstmals überhaupt hatte ich die Stunden gezählt, bis es endlich soweit ist, und erwartungsfroh spulte ich die letzten Arbeitstage herunter: Neugierig auf Länder, in denen ich noch nie zuvor war, ein wenig angespannt, wie immer, wenn man nicht so genau weiß, was einen erwartet, und glücklich, bald endlich wieder das Gefühl von Freiheit zu spüren, das ich so lange schon vermisst hatte.

Dann aber kam dieser Anruf, der mich bewog, alles stehen und liegen zu lassen, und statt Richtung Osten an die heimatliche Küste aufzubrechen. Innerhalb weniger Tage wurde das lange nicht mehr Unerwartete viel zu plötzlich Realität und binnen Wochenfrist bildeten Sterbebett und Friedhof eine unwirkliche Routine.

Beinahe in Endlosschleife lief während der vielen Kilometer zwischen hier und Nordsee die Musik von Cat Stevens und (merkwürdigerweise) Hair; doch später weckte selbst ein anderer ständiger Begleiter seit meiner Jugend, das Deutsche Requiem von Brahms, welches ich mir für den Beginn meiner ersten Etappe „aufgespart“ hatte, nur einen leisen Anflug von Emotion – so wohltuend tröstend dieses Werk auch ist.

Insofern war es eine Art glücklicher Zufall, dass ich nach einem Stopp kurz vor Berlin aus den Augenwinkeln ein Pappschild mit der Aufschrift Warszawa wahrnahm. In der Konsequenz hatte ich nun die kurze Zeit bis zum Ende des ersten Reisetages Gesellschaft. Und nach kurzem Überlegen auch den ganzen zweiten: Statt über Szczecin (Stettin) und Gdańsk (Danzig) führte der Weg nun direkt gen Osten. So erreichte ich zwar nicht so früh wie geplant die Ostsee, sondern „nur“ die Wisła (Weichsel), die langen Gespräche mit meiner Reisebegleitung, einem jungen Politik- und Geschichtsstudenten aus თბილისი (Georgien), entschädigten dafür aber ein Vielfaches. In mancherlei Hinsicht interessant und lehrreich waren sie, vor allem aber ließen sie das, was sonst so fern erscheint, zum ersten Mal auf dieser Reise so verdammt nah kommen. Danke, Sandro, für die Zeit mit dir!

Nah war dies auch am nächsten Tag auf dem Weg nach Kaunas, wo recht früh die ersten Hinweisschilder nach Мінск (Minsk) auftauchten und schließlich die Grenze zu Беларусь (Belarus) weniger als 15 Kilometer entfernt lag, bevor ich auf diesem Weg eine gute halbe Stunde später Lietuva (Litauen) erreichte.

Erstes Etappenziel: Ostsee

Am Nachmittag darauf erreichte ich Klaipėda und damit das erste Ziel meiner Reise, die Ostsee. Von dort setzte ich auf die Kuršių nerija (Kurische Nehrung) über, wobei für die knapp fünfminütige Überfahrt ein stolzer Preis zu entrichten war – und ein noch stolzerer für die Maut auf der Nehrung. Beides fand jedoch durchaus meine Sympathie, bilden die Taxen doch ein gutes Steuerungsinstrument in Bezug auf den motorisierten Individualverkehr. Außerdem ließ die Fahrt durch den schier endlosen Birken- und Kiefernwald zu den Klängen von Simon & Garfunkels Album (!) Sound of Silence die folgenden Kilometer zu einem unvergleichlichen (und unvergesslichen) Erlebnis werden.

Noch näher als in den beiden Tagen zuvor kam das sonst so Ferne und Unwirkliche, als ich in Nīde mein Nachtquartier weniger als drei Kilometer von der russischen Grenze entfernt bezog. Und bei einer abendlichen Rad- und Wandertour eröffnete sich an der Saulės laikrodis (Sonnenuhr) auf der Parnidžio kopa (Parnidis-Düne) der Blick auf die nur wenige hundert Meter entfernte Калинингра́дская о́бласть (Oblast Kaliningrad). Wenngleich auch von hier aus betrachtet der Krieg weit entfernt stattfindet und es sich nur um eine Exklave der Föderation handelt, bildeten an diesem Ort Beklemmung und Traurigkeit über das kaum Fassbare eine schier unüberbrückbare Dissonanz zur beeindruckenden Dünenlandschaft, den idyllischen Häfen und den herbstlich melancholischen Wäldern.

Dem Blick von Thomas Mann folgend, schaute ich am nächsten Morgen ein letztes Mal über Nehrung und Haff, hoffend und bangend irgendwann an diesen Ort zurückkehren zu können.

Weit weniger emotional doch kaum weniger beeindruckend verliefen die nächsten Etappen, die mich in Latvija (Lettland) über Abragciems (wo ich einen kleinen Zeltplatz direkt am Wasser ganz für mich alleine hatte) nach Rīga führten, von wo es recht züggig durch Eesti (Estland) nach Suomi (Finnland) ging. Ein Frevel sei es gewesen, mir Tallinn nicht angeschaut zu haben, hörte ich Wochen später am Ende meiner Reise auf der Fähre. Doch hatte die lettische Hauptstadt meinen Hunger nach Stadterkundung mit ihren unterschiedlichen und gegensätzlichen, beinahe widersprüchlichen Facetten ausreichend gesättigt. Eine Reise wert ist Rīga auf jeden Fall, was die Bilder vielleicht erahnen lassen. Und was Tallinn betrifft: Immerhin konnte ich von der Fähre nach Helsinki aus zumindest einen kurzen Blick auf die Stadt erhaschen – im wahrsten Sinne des Wortes ganz am Rande.

Turun linna, Kallon majakka, Strandis Larsmo, Pudasjärvi ja Oulangan kansallispuisto

Suomi

Gleiches traf auf Helsinki zu. Vergleichbar mit meiner Ankunft in Göteborg vor zwei Jahren, würdigte ich die Stadt kaum eines Blickes. Irgendwie vertragen sich Überfahrten und größere Städte, der Übergang von See zu Land – zum hektischen Treiben, vollen Straßen und aufragenden Bauten –, nur bedingt. Bei Göteborg kam es beim nächsten Besuch zur Liebe auf den zweiten Blick (dazu später mehr), wer weiß, vielleicht verbinde ich später auch mit dieser Stadt anderes als den Blick auf die Baukräne, die hohen Häuser und den Gedanken, kurz vor dem Anlanden mit Nord Stream 1 und 2 ein Stück Gegenwartsgeschichte gequert zu haben.

Nach einem kurzen Blick auf die Karte, machte ich mich auf den Weg nach Salo, genauer auf die kleine Insel Vuohensaari im Meeresarm Kirjakkalanselkä. Dort erwarte mich ein idyllischer Platz umgeben von bewaldeten kleinen Hügeln, auf denen neben lauter kleinen Bauten auch ein größeres uriges Holzhaus mit einer riesigen offenen Veranda stand, welche als Ausflugslokal dient. In den übrigen Häuschen entdeckte ich später neben den skandinavischen Klassikern Grill- und Räucherhütte, auch eine größere überdachte Tanzfläche und eine kleinere Theaterarena. Gut getarnt schlummerte also rund um das Campingareal ein gar nicht mal so kleines Kulturzentrum nach Ende der Saison.

Kultur der eher touristischen Art erwarte mich tags darauf in Turku beim Besuch der Turun linna (Burg Turku), eine der ersten drei Burgen – zusammen mit Hämeenlinna und Wyborg (heute russisch) –, welche die Schweden im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts errichteten, nachdem das von ihnen eingenommene Gebiet als Österland fester Teil des schwedischen Reiches wurde. Neben allerhand meist historisch möblierten Kapellen, Funktionsräumen und Gemächern erwarteten mich hier bestimmt ein Dutzend neuzeitlicher Klaviere und ein überaus freundlicher Museumswärter, welcher mich (vermutlich, um seiner Langeweile vorzubeugen) mit einer Fülle an historischen Einordnungen und Anekdoten versorgte. Gebeten hatte ich ihn zwar nicht darum, unangenehm war mir seine Redseligkeit aber trotzdem nicht.

Soweit möglich entlang der Küste ging es anschließend nordwärts an die Bucht Otanlahti vor den Toren Raumas zu einem Zeltplatz, welcher nahtlos in einen kleinen Hafen überging, in dem zwei mittelgroße historische Segler ihre Heimat gefunden haben. Gerne hätte ich am nächsten Morgen vom nahen Aussichtsturm noch Fotos gemacht, leider hatte aber das Café, welches den Schlüssel verwahrt, so früh am Tag noch geschlossen. So blieb es also bei einem kleinen Spaziergang, dessen wenig überzeugender Höhepunkt einige erfolglose Bergungsbemühungen eines – von seinem Besitzer mit einem Satz beim Anfahren in den Graben bugsierten – Kleinwagens waren. Später am Tag machte ich auf der Weiterfahrt gen Norden kurz hinter Pori noch einen Abstecher zum Kallon majakka (Leuchtturm von Kallo) und erreichte abends den Strandis Larsmo (Strand von Larsmo), wo ich zum zweiten Mal den Luxus genoss, ein Nachtquartier ganz für mich allein zu haben, noch dazu ein vielfach größeres als in Abragciems.

Je weiter ich nach Norden kam, umso mehr fiel etwas von mir ab. Sicherlich war es ein wenig die Anspannung: Finnland war nach den baltischen Staaten bereits das vierte Land, welches ich erstmals bereiste, die Sommermonate waren anstrengender als sonst gewesen und die Trauer über den Verlust meines Vaters und das Entsetzen über den Krieg hatten sich wie eine dichte Nebelwand kalt und grau um Seele und Geist gelegt. Doch mit Erreichen der Pohjois-Pohjanmaan maakunta (Provinz Nordösterbotten) war es ein wenig, als würde die schroffer werdende Natur all das schlucken, als würden mich Wald, Wasser, Fels und die kühle erst sanft berühren und schließlich lautlos still umarmen.

So ging es im diesigen Morgenlicht des nächsten Tages über (bis auf Rentiere) fast leere Straßen von Pudasjärvi aus in den Oulangan kansallispuisto (Oulanga-Nationalpark), um dort den Kanjonin kurkkaus- (Schluchtblick-) Trail zu wandern. Im Osten grenzt der Nationalpark übrigens direkt an den Национальный парк Паанаярви (Paanajärvi-Nationalpark) und bildet zusammen mit diesem Europas größtes grenzüberschreitendes Schutzgebiet mit Russland. Kurz spielte ich noch mit dem Gedanken, die knapp 15 Kilometer Luftlinie entferne Grenze zu besuchen, verwarf den Gedanken jedoch angesichts des doch recht großen Umwegs über Land, und kehrte direkt mit dem Gedanken im Kopf nach Pudasjärvi zurück, dass es etwas tröstliches hat, dass weder Wasser noch Flora und Fauna sich vom neu entstandenen eisernen Vorhang beeinflussen lassen.

Verirrt

Unentschlossen, wie ich meine Route von hier aus fortsetzen sollte, spielte ich die verschiedenen Möglichkeiten durch. Weiter in den Norden Finnlands nach Inari? Nein, denn: „Der schönste Weg nach Inari geht“ sowieso mit dem Zug – und wenn mit dem Zug, dann, wie Sirpa schon sagte „über Nordschweden, über Haparanda.“ Einfach weiter um die Ostsee? Das würde zwar bedeuten, die Orte zu besuchen, die ich vor zwei Jahren schon besucht hatte, böte aber die Möglichkeit, nach Gotland zu fahren. Doch hoch an den Nordpolarkreis in Richtung Tromsø, wohin ich ebenfalls vor zwei Jahren nicht fahren konnte? Polarlichter würde ich kaum sehen, weil das sich nähernde Regentief im gesamten Norden Skandinaviens halten würde, und zudem brächte Norwegen unzählige Kilometer mehr mit sich.

Zweites Etappenziel: Die Brücke

Als erstes verwarf ich aufgrund der Wetteraussichten Inari, womit Haparanda als nächstes Zwischenziel feststand. Und damit die Brücke über Tornionjoki][Torne älv die ich vor zwei Jahren nicht passieren durfte. Es folgte ein kurzer Abstecher nach Törehamn, wo eine Boje den nördlichsten Punkt der Ostsee markiert, und von dort fuhr ich dann wider alle Vernunft doch in Richtung Norden. Trotz des eingesetzten Dauerregens stieg meine Stimmung, je näher ich dem Nordpolarkreis kam. Als dann in Gällivare sogar der Regen aufhörte, hätte es mir besser kaum gehen können. Doch die Freude währte nur kurz: Mein ausgesuchtes Nachquartier, wo ich bei meinem letzten Besuch den stärksten Orkan überhaupt bei einer Nacht im Zelt erlebt hatte, war ohne Vorankündigung für Zelte gesperrt und ein Ersatzquartier bereits am Nachmittag geschlossen. Selbst ein Platz in einer Pension oder einem bezahlbaren Hotel ließ sich nicht finden. Mir blieb also keine andere Wahl, als entweder direkt weiter in den Norden zu fahren, was eine Ankunft im Dunkeln beim wiedereinsetzenden Regen bedeutete, oder trotz anbrechender Dämmerung weiter nach Jokkmokk zu fahren. Ich gestand mir ein, dass ich mich „verirrt“ hatte, und entschloss mich zu letzterem. Belohnt wurde diese Entscheidung am nächsten Morgen damit, dass mir im trüben Grau zunächst ein weißes Rentier und kurz darauf noch der erste Elch überhaupt in freier Wildbahn begegnete.

Gotland!

So ging es nun doch Stück für Stück gen Süden. Trotz der Verirrung (hatte mir ein Troll etwa mit seinem Hexenkraut die Sinne vernebelt?) war ich einerseits glücklich, wenigstens kurz in Sápmi gewesen zu sein, freute mich andererseits nun aber auf Gotland – und auf besseres Wetter! Der Regen hielt, von kurzen Pausen abgesehen, die dreitägige Fahrt über Skellefteå und Sundsvall bis Nynäshamn an; erst mit dem Ablegen der Fähre überwogen dann wieder die niederschlagsfreien Stunden und auf der Insel angekommen gab es tatsächlich vereinzelt wieder längere sonnige Abschnitte.

Drittes Etappenziel: Gotland

War in den Tagen zuvor mit dem trüben Wetter (und den neueren Liedern von Reinhard Mey) die Traurigkeit zurückgekehrt, wehte diese bereits auf der Überfahrt nach Visby von Bord und verschwand ohne Umwege in den Tiefen der Ostsee. Bereits der Weg nach Burgsvik, das für die nächsten Tage mein Basislager sein würde, ließ erahnen, was mich hier erwartete. Und nachdem ich mich wetterfest eingerichtet und zum ersten Mal seit längerem wieder im Trockenen zu Abend gegessen hatte, schmiedete ich Pläne für die Erkundung der Insel, die so ganz anders war, als ich sie mit vorgestellt und es – nach meinem Besuch zwei Jahre zuvor 80 Kilometer westlich von hier auf Öland – vermutet hätte. Vielfältiger war es hier, herber, weiter …

Von Burgsvik startete ich am nächsten Morgen zu einer Tour mit dem Rad entlang der Westküste zur Südspitze. Der Weg führte mich bei strahlendem Sonnenschein auf holprigen, teils schlammigen Feldwegen (Tempobeschränkung 70 km/h 😉) an alten Fischersiedlungen, Befestigungsanlagen und Steinbrüchen vorbei nach Hoburgen, von wo es binnenländisch zunächst zum Sundre kastal, einem zirka 12 Meter hohem Wehrturm (mit Dachgarten!) aus dem 12. Jahrhundert, und danach an stillgelegten Windmühlen vorbei zurück zum Zeltplatz ging – natürlich nicht, ohne zuvor noch in den Genuss eines kräftigen Schauers zu geraten.

Besonders beeindruckt haben mich später an der südlichen Ostküste das Tomtbod Fiskeläge (Fischerdorf Tomtbod), welches zwar den größten Teil des Jahres verlassen, aber als eine Art Freilichtmuseum weitestgehend im Originalzustand erhalten ist, und das Folhammar Raukområde (Raukarfeld Folhammar). Raukar (Singular: Rauk) sind Steinsäulen aus Riffkalk, die bis zu 10 Meter hoch sein können und in der Form nur auf Gotland sowie den benachbarten Inseln vorkommen.

Enttäuschend verlief hingegen die Suche nach der Villa Villekulla (Villa Kunterbunt) in Kneippbyen. Zwar handelt es sich bei diesem Gebäude um den Originaldrehort aus den Pippi Langstrumpf-Filmen, aber eingepfercht in einen kleineren Vergnügungspark, gestrichen in Bonbonfarben und umgeben von Asphaltwüsten, war dieser Abstecher auf dem Weg nach Visby verlorene Zeit. Ganz anders verhielt es sich dann aber mit der alten Hafen- und Handelsstadt, deren Ursprünge bereits in vorchristlicher Zeit liegen. Wenngleich diese mit ihrem baulichen, wirtschaftlichen und kulturellen Charakter einen krassen Gegensatz zum Rest der Insel bildet und die Altstadt von einer Armada aus AIDA-Kreuzfahrer*innen auf E-Bikes heimgesucht wurde, war der Besuch hier doch ein sehenswerter Abschluss meines Aufenthalts und eine Art vorbereitender Resozialisierung nach den Tagen in der Stille der Natur.

Auf der Rückfahrt zum Festland erlebte ich später noch eine Episode, die mir bemerkenswert erscheint, weil ich sie in der Form in Deutschland noch nicht erlebt habe: Da an Bord alle Plätze im Bereich des Restaurants belegt waren, fragte ich einen älteren Herrn, ob ich mich zu ihm mit an den Tisch setzen könne, was dieser freundlich bejahte. Wir kamen ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass er auch auf Gotland einen Wohnsitz hat und regelmäßig zwischen Insel und dem Umland von Stockholm pendelt. Er erzählte mir einiges über die Insel und kam später auf die auch in Schweden rasant steigenden Energiepreise zu sprechen, über die er sich – halb auf Englisch halb auf Schwedisch – bitter beklagte. Unvermittelt mischte sich ein zufällig vorbeikommender Mann um die 40 in das Gespräch ein und fragte ihn in herausforderndem Ton sinngemäß, ob er deswegen SD (die rechtspopulistischen Schwedendemokraten) gewählt habe. Sofort entspann sich eine hitzige Debatte zwischen den beiden, sowohl über das Wählen einer rechtspopulistischen Partei aus Protest als auch über die Energiepolitik und -versorgung Schwedens. Als jedoch kurz vor dem Anlegen das Thema wechselte, verschwand alle Schärfe aus den Stimmen genauso plötzlich, wie sie aufgekommen war, und beide gingen die verbleibende Zeit so höflich und zuvorkommend miteinander um, als hätte es nie Differenzen (schon gar keine politischen) zwischen diesen beiden Menschen gegeben, die sich zuvor noch nie begegnet waren.

Hillerska riksinternat, Kungsklyftan, Bohus Fästning och Ragnhildsholmen borgruin

Die letzten drei Tage in Schweden nutzte ich für einen Abstecher zum Kaggeholms Slott (Schloss Kaggeholm), für das ich sogar Drottningholms Slott (Schloss Drottningholm), den privaten Wohnsitz der schwedischen Königsfamilie, im wahrsten Sinne des Wortes links liegen ließ. Ein bisschen kam ich mir wie ein Teenager vor, als ich das „Hillerska riksinternat“ besuchte, aber immerhin trug ich keinen lilafarbenen Hoodie, welcher mich als Fan einer schwedischen Netflix-Serie geoutet hätte.

Von dort aus ging es weiter nach Mariestad am Vänern und am nächsten Tag über einen Umweg nach Fjällbacka zum letzten Ziel meiner Reise nach Göteborg. In der Nähe von Fjällbacka war ich schon vor zwei Jahren zu Beginn meiner damaligen Reise gewesen. Erst hinterher stellte ich fest, dass dort die Kungsklyftan (Königsschlucht) liegt, welche in der Verfilmung von Ronja Räubertochter als Wolfsklamm, dem Zugang zur Mattisburg, zu sehen ist. Durch nichts zu erahnen ist im Film jedoch, dass der Felsspalt kurioserweise mitten in einer Stadt und noch dazu am Meer liegt. Der Aufstieg hat sich dennoch gelohnt und der Blick von dort über die Schärenküste war eine nette Dreingabe zur ohnehin sehenswerten Schlucht.

Göteborg, die Stadt, deren schlichte Schönheit mich am Ende meiner letzten Reise – vom Deck der Fähre zurück nach Deutschland aus – überrascht und fasziniert hatte, empfing mich wie beim allerersten Mal mit überfüllten Straßen, Trubel und Lärm. Erstmals erlebte ich auf dieser Reise einen nahezu ausgebuchten Campingplatz und Zeltnachbar*innen, welche die Umgebung stundenlang mit dem lauten Gedudel von Serien irgendeines Streamingdienstes beschallten. Ich nahm Reißaus, um noch ein paar Dinge einzukaufen, und war erstaunt, wie schnell ich diesen Zivilisationsschock nach dem Verlassen des Geländes verarbeiten konnte. Zwar fluchte ich innerlich leise, als mich die Route, die das Navi am Fahrrad als „größtenteils flach“ bezeichnete, fast zwei Kilometer steil bergauf führte, die Strecke verlief jedoch die meiste Zeit durch ein Waldstück und selbst auf den Straßen rund um den Supermarkt waren nur wenige Menschen unterwegs.

Tags drauf brach ich morgens vor die Tore der Stadt auf, um mir die Bohus fästning (Festung Bohus) und die Ragnhildsholmens borgruin (Burgruine Ragnhildsholmen) anzusehen, bevor ich die letzten Stunden in Göteborg mit einem Bekannten aus der ostfriesischen Heimat verbrachte. Schon auf dem Weg zum Treffen vom Tysklandsterminalen zur Göteborgs centralstation bestätigte sich die Liebe auf den zweiten Blick, die in der Herbstsonne 2020 begann: Ich hatte mich in der Schönheit der Stadt nicht geirrt. Zwar waren die wenigen Kilometer auf dem Rad, der Fußweg durch den Park Trädgårdsföreningen (Parkvereinigung) und die wenigen Schritte zum Essen auf dem Schiff nur weitere Eindrücke; doch sie werden zusammen mit dem Wiedersehen nach so langer Zeit in Erinnerung bleiben. Danke dafür, Ibo!

Diese letzten Momente in Schweden, der Weg zurück zum Hafen und die Rückfahrt bei Nacht über die Ostsee machten den Abschied so angenehm wie möglich. Der Abschiedsschmerz lässt sich ertragen, wenn man weiß, dass man hierher zurückkommen kann, wenn es sich ergibt. Und ich hoffe, es wird bald sein, ganz bald!

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