Italia meridionale

  • Weihnachten 2014
Ostia Antica

Ein Weg nach Rom

Mehr als vier Tage hat es dieses Mal gedauert, dass ich zur Kamera griff. Nicht, dass es keine Motive gegeben hätte – die ersten Tage führten mich über Freiburg nach Locarno am Lago Maggiore, entlang dem Parco Nazionale delle Cinque Terre bis nach Lerici etwas südlich von La Spezia in eine der schönsten Gegenden Italiens. Dort allerdings war ich angesichts des Umstandes, in den letzten Jahre immer deutlich nach der Saison gereist zu sein, auf die Menschenmassen, auf die ich dort traf, nicht vorbereitet und setzte vieles daran, mein Vorankommen gen Süden zu beschleunigen. Eigentlich hätte ich es wissen können; aber noch ungeplanter war ich noch nie irgendwohin aufgebrochen, war doch im Prinzip bis zur Abfahrt nicht vollkommen sicher, ob ich gen Süden oder doch in den Südosten oder gar in den Norden fahre. Zwar war mir nach dem am Ende doch recht nasskalten Sommer nach Sonne und etwas Wärme, die Vorhersagen für Süditalien ließen jedoch bis zum letzten Moment vor Abreise die Befürchtung übermäßiger Hitze zu.

So durcheilte ich nach Liguria auch die Toscana dieses Mal im Schnelldurchlauf und fand mich merkwürdigerweise im sonst insbesondere rund um Rom so triebsamen Lazio erstmals wirklich in Urlaubsstimmung – und das ausgerechnet auf der Via del Mare, die Rom mit den Küstenorten verbindet und normalerweise italienischen Verkehr in Reinkultur bedeutet. An diesem Tag jedoch war sie erstaunlich leer und meine Gedanken kreisten während der Fahrt in Richtung Meer vor allem darum, was mich in Lido di Ostia nach den schweren Bränden in der Umgebung des Ortes vor einigen Jahre dort erwarten würde, hatte ich doch seinerzeit in zumindest einem Bericht gelesen, dass mein damaliges Quartier in deren Folge nicht mehr existierte. Umso glücklicher war ich, als ich es nahezu unverändert vorfand, verband ich doch eine Reihe schöner Erinnerungen damit, und umso erleichterter, als ich erfuhr, dass alle dort Arbeitenden und das gesamte Areal von den Flammen verschont geblieben waren.

Neben dem ersten physischen Kontakt mit dem Mediterraneo bedeute dieser Ort auch das erste kulturelle Highlight der diesjährigen Reise, schaffte ich es diesem mal doch, den Parco Archeologico di Ostia Antica zu erkunden, die Ausgrabungen der antiken römischen Hafenstadt Ostia.

Sicilia: il Nord

Gegensätze

Über Zwischenstationen in Vico Equense am Golfo di Napoli und Nicotera in Calàbbria erreichte ich von Villa San Giovanni aus Messina und damit das eigentliche Ziel meiner Reise: Sicilia. Wie schon vor Jahren in Göteborg und anderen Hafenstädten (im letzten Jahr beispielsweise traf es Helsinki) setzte mit Verlassen der Fähre der Drang ein, schnellstmöglich der urbanen Enge und Lebhaftigkeit zu entkommen – und verpasste vermutlich wieder einmal die eine oder andere Sehenswürdigkeit. Beeindruckte mich einerseits die felsige Küste hoch über dem Meeresspielgel auf der Fahrt Richtung Westen und eröffnete unterwegs faszinierende Blicke über die beindruckende Landschaft, trat hier ein Phänomen auf, welches mir bereits in den Regionen Campania und Basilicata begegnet war: Entlang der Straßen und Haltepunkte türmten sich durchweg Mengen an Müll, der stellenweise sogar in Brand gesetzt war …

Von seiner schönsten Seite zeigte sich hingegen die Gegend um Cefalù, die für die nächsten Tage meine Bleibe sein. Trotz ihrer spürbar touristischen Prägung war zum Ende der Saison der größte Sturm bereits vorüber, bis auf Zeiten am Morgen, wo die Sonne erbarmungslos die Feuchte erhitzte, und den Abend, wo feuchte Luft vom Mar Tirreno auf die Hitze des Nachmittags traf, waren die hohen Temperaturen gut zu ertragen und – abgesehen von einem nicht geglückten Besuch „ana Pizzeria in Palermo-City“ (wo ist das Fahrrad, wenn man es braucht?) – wurde (ausgerechnet) ich vorrübergehend zu einem großen Fan ausgeprägten Müßiggangs: Essen, schlafen, lesen, plaudern, fotografieren, faulenzen!

Später dann setzte ich meine Reise entlang der Küste fort und erreichte – nach dem wohl größten Regenguss, den ich jemals in Italien erlebt habe – mit Tràpani und dem dort liegenden Naturreservat („riserva naturale orientata“) Saline di Tràpani e Paceco den ungefähr nordwestlichsten Punkt der Insel. Leider waren die alten Mühlen dort lange nicht so gut erhalten, wie es einem die Sozialen Netzwerke glauben machen (zumindest flügellos sind fast alle inzwischen), dennoch wohnt der Landschaft dort ein Zauber inne, den die Bilder vielleicht erahnen lassen.

Stein auf Stein neben Stein

Templi di Selinunte e Valle dei Templi

Schon vor Tràpani war die Zahl der Menschen, die einem begegneten, deutlich zurückgegangen. Auf den nun folgenden knapp 50 Kilometern an der Ostküste begegnete mir bis zu meinem Nachtquartier in Petrosino gefühlt nicht einer. Die Landschaft sanft und karg, entlang der Wege mal Wein, mal Olivenbäume, mal pastellfarbene Bauten mit bröckelndem Putz, dazwischen Sand und Palmen.

Wenngleich mich die Antike mit ihren Bauten und ihren kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften schon als Kind faszinierte, hatte ich am nächsten zumindest einen Moment lang das Gefühl, ich sei komplett falsch abgebogen als ich Σελινοῦς betrat, eine alte griechische Polis, gegründet im 7. Jahrhundert v. Chr. Später in karthagischer Hand wurde die zu dem Zeitpunkt verlassene Stadt 250 v. Chr. von den Römern zerstört, alles weitere erledigten in den folgenden Jahrhunderten Erdbeben, sodass kein Gebäude erhalten blieb. Der Tempel E, welcher vermutlich der Göttin Hera geweiht war, wurde Mitte des letzten Jahrhunderts wieder aufgebaut, die Rekonstruktion ist jedoch umstritten und entspricht nicht dem aktuellen Stand der Forschung.

Anders als bei den Templi di Selinunte verhält es sich im Valle dei Templi (auf den Fotos zu sehen ab dem Schild mit der Aufschrift Pericolo|Danger: Die Ruinen in den archäologische Stätten von Agrigent[o] sind im Originalzustand erhalten und wurden 1997 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Um den Concordiatempel herum entstand zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert n. Chr. eine frühchristliche Nekropole, deren Arkosolien teilweise relativ gut erhalten sind. In unmittelbarer Nähe wurde am 3. Dezember 2015 ein Giardino dei Giusti di tutto il mondo eröffnet, in welchem unter anderem dem deutschen Pazifisten und Schriftsteller Armin T. Wegner gedacht wird, dessen Fotografien auch heute noch als die wichtigsten Bildbeweise für den Genozid am armenischen Volk gelten.

Gerechtigkeit und Tod waren auch das, was mich nicht zum ersten Mal seit Beginn der Reise bewegte, als ich vom Valle die Templi aufs nahe Mittelmeer blickte: Grade einmal etwas mehr als 200 km liegt Lampedusa von hier entfernt …

Siracusa

Contraddizione

Entlang der beschaulichen Südküste führte mich der Weg nach Avola, wo für die nächsten beiden Tage mein Quartier sein sollte. Als Namensgeberin der Rebsorte Nero d' Avola hatte mich die Stadt schon eine ganze Weile begleitet: Tiefdunkel, samtig und kräftig zugleich, mit ausgeprägtem Geschmack nach Brom- und Johannisbeere schaffte sie es aus dem Stand in meine Favoritinnenliste. Mein eigentliches Ziel dort, der winzige Zeltplatz, war etwas umständlich über eine sehr schmale Straße zu erreichen, wo jede Begegnung unweigerlich zu längeren Rückfahr- oder abenteuerlichen Rangiermanövern führte. Direkt neben einem wunderschönen Strandabschnitt liegend verfügte er trotz der wenigen Stellplätze über eine eigene Pizzeria, die sogar mich als nicht wirklich großen Pizzafan (ausgerechnet mit einer Pizza auf der sogar Ei und frische Erbsen waren) nicht nur satt werden ließ sondern auch glücklich – zumindest für einen Moment.

Ohnehin aufgrund des sich erstmalig jährenden Todestages meines Vaters lange Momente traurig und gedankenverloren grübelnd, erfuhr ich direkt nach meiner Ankunft vom plötzlichen Tod eines jungen Menschen, der über viele Jahre unser Gast gewesen war. Und wäre da nicht die quirlige Familie nebenan gewesen, wäre ich vermutlich in gänzlich in Lethargie versunken. Doch einige nette Gespräche mit den Eltern, das Quatschmachen der Kinder und ein paar Telefonate brachten zumindest zeitweise Ablenkung. Ich glaube, es war das erste Mal überhaupt in einem Urlaub, das sich froh war, Deutsch um mich herum zu hören …

Zweimal machte ich von Avola auf in das knapp dreißig Kilometer entfernte Siracusa. Und wenn es ginge, würde ich mich sofort wieder auf den Weg dorthin machen. Nicht nur, dass es so vieles gibt, was ich gerne noch sehen würde (hätte mir vielleicht mal jemand beibringen können, dass Archimdes Ἀρχιμήδης ὁ Συρακούσιος hieß?), irgendetwas liegt über dieser Stadt, das ich nicht beschreiben kann – etwas, das mich gleichermaßen an Porto und Göteborg erinnert und mich wortlos in den Bann gezogen hat. Dabei waren in der kaum zu fassenden Mischung aus Ruhe und Betriebsamkeit in den Straßen, dem Mix aus Sonne, Wind, dem Spiel von Licht und Schatten am Hafen, den Farben der Schiffe und Gebäude, den ständig wechselnden Gerüchen, der Zeitreise durch die Epochen, dem Nebeneinander von Luxus und bitterer Armut, dem Leben in all seinen Nuancen auch so viele Gedanken und Gefühle von Trauer, Wut und Hilflosigkeit: Sowohl am Ufer der Isola di Ortigia als auch beim Besuch des Castello Maniace war bei jedem Blick aufs Meer das Thema Flucht und Abschottung – der zurückkehrende Faschismus – das alles Bestimmende.

Von allen Etappen war die nach, in und um Siracusa wohl die widersprüchlichste: Konträr wechselnde Stimmungen, Eindrücke, Gedanken, Gefühle in engster Abfolge. So gestalteten sich auch die letzten kurzen Momente am Hafen, wo die Ocean Viking bereits lag als die ResQ People einlief, um für weitere Einsätze beladen zu werden: All die negativen Gefühle wichen für einen Augenblick Hoffnung und Dankbarkeit!

Verso Casa

Verpasste Gelegenheiten

Wahrscheinlich wäre die nächste größere Stadt, die ich nach Siracusa erreichte tatsächlich mehr als einen kurzen Blick im Vorbeifahren und dem prüfenden Blick, ob sich ein „Haus für meine Mama an der Küste von Catania“ dort tatsächlich lohnt, wert gewesen. Auch den Etna umrundete ich nur in einiger Entfernung an seiner west- und nördlichen Seite. Und selbst Taurmina, das auf meiner Liste ziemlich weit oben stand, ließ ich (im wahrsten Sinne des Wortes) links liegen. Waren es bei den Städten die Menschenmassen, die mich schreckten, war es am Fuße des Vulkans die Hitze, die mich auf einer doch recht langen Strecke zu Fuß trotz der Höhe erwartet hätte. Um am nächsten Tag möglichst früh die Fähre in Messina erreichen zu können, suchte ich mir einen schönen Platz in der Nähe von Sant'Alessio Siculo. An der Rezeption noch vorgewarnt, dass es auf dem Areal, auf welchem ich mein Zelt aufstellen würde, abends sehr laut werden können, erlebte ich einige Stunden später eine der schönsten Überraschungen meiner Reise: Bei der angekündigten Musik handelte es sich nicht, wie von mir vermutet, um den üblichen Italo-Pop, der mir bereits in einigen stark touristisch geprägten Regionen laut und bis tief in die Nacht hinein von Tanzveranstaltungen in einiger Entfernung entgegendröhnte, sondern um eine Arte Musikwettbewerb mit viel klassischer sizilianischer und italienischer Folklore: Akkordeon, Geige, Gesang, wenig Mandoline und Flöten und sparsam eingesetzte Percussion. Gemütlich im Zelt liegende schlief ich zwar immer wieder bei Zuhören ein, aber es war auch jenseits des Schlafens wahrhaft traumhaft.

Tags drauf hieß es nach einem etwas abenteuerlichen Ticketkauf am Hafen Abschied von der Insel zu nehmen und nicht ohne eine gewissen Schwermut blickte ich wieder und wieder zurück. Tröstend waren, zurück am Festland, die Eindrücke, die Calàbbria bei mir hinterließ. Schon auf dem Hinweg war mir die herbe Schönheit dieser Region aufgefallen. Nun, an der Süd- und Ostküste begegneten mir Landschaften und Menschen, die mich freundlich und sanftmütig willkommen hießen. Und zum zweiten Mal auf einer Reise im südlichsten Europa begegneten mir (nach Griechenland vor einigen Jahren) Menschen, die mit ein wenig Stolz in der Stimme – vor allem aber voller Dankbarkeit – über die Schönheit des Landes(-teils) sprechen, in dem sie leben.

Nach einer Nacht in Caulonia Marina hieß es jedoch ab dem nächsten Tag, ein Gleichgewicht zwischen Urlaub genießen und Kilometer machen zu finden. So verbrachte ich zwar noch eine Weile in Le Castella, verließ jedoch schon abends kurz vor Scanzano Jonico einen der überraschendsten und eindrucksvollsten Teile Italiens wieder.

Über Tarent und Brindisi, an Bari vorbei und von da aus immer weiter entlang der Ostküste ging es in Richtung Parco Nazionale del Gargano, an dessen Rand ich abends noch die kleine touristische geprägte Stadt Vieste erkundete. Vielleicht aufgrund der späten Stunde, vielleicht auch aufgrund der beginnenden Nachsaison traf ich jedoch kaum noch auf Menschen, die dort wie ich zu Gast waren. So genoss ich am Abend des letzten ruhigen Urlaubstagestages einerseits die Idylle des Ortes und andererseits den Umstand, zum ersten Mal seit längerem wieder mit dem Fahrrad unterwegs sein zu können, bevor es am nächsten Tag in großen Schritten gen Heimat gehen würde.

So folgten nur noch Übernachtungen in der Nähe von Ravenna und Trieste, von wo es in einer abenteuerlichen Fahrt über die steilste und engste Strecke, die ich bislang erlebt habe, nach Slovenija und von dort über Österreich nach Deutschland zurück ging.

Einerseits hätte ich gerne noch mehr Zeit in Calàbbria verbracht, mir den Parco Nazionale del Gargano näher angesehen und Trieste näher erkundet, auch war da in Slovenija wieder diese Sehnsucht, endlich einmal nach Црна Гора und Shqipëria aufzubrechen. Doch waren der Eindrücke ohnehin schon so viele, dass es mehr als einen Monat gedauert hat, zurück im Alltag all die Eindrücke dieser Wochen zu verarbeiten. So habe ich zwar – grade auf dieser letzten Etappe – einige Gelegenheiten verpasst, doch die, die ich wahrgenommen habe, werden mich noch lange tragen und Farben im trüben Winter sein, die leuchten werden wie das Meer in Italia meridionale und die Augen des jungen Mannes, als er von Calàbbria sprach!

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